Donnerstag, 29. März 2007

Institutionenreform, Teil 2?

Braucht Deutschland eine Wahlsystemreform? Warum ausgerechnet eine Wahlsystemreform? Ist das Wahlsystem nicht vielleicht sogar das einzige, was in Deutschland gut funktioniert? Und außerdem: Institutionenreform... hatten wir doch gerade erst. Die Föderalismusreform ist noch nicht ein Jahr alt und ihre genauen Auswirkungen auf die bundesstaatliche Ordnung noch nicht absehbar.

Eine zweite große Institutionenreform in dieser Legislaturperiode?

Die größte und weitreichendste Überarbeitung des Grundgesetzes seit seinem Bestehen ruft (bei mir) genau so viel Unwohlsein hervor wie der mit der Reform überwundene Status quo der Lähmung politischer Prozesse. Und jetzt: Kompetenzen entwirrt, Problem gelöst? Sowohl die Länder als auch der Bund erhalten mehr Autonomie. Um in Zukunft mehr eigenen Spielraum zu haben, hat der Bund bei Bildung und Umweltschutz Kompetenzen an die Länder zurückgegeben. (Schlimmstenfalls droht uns in Deutschland in Sachen Umweltschutz ein Phänomen, das man schon in den USA gut studieren konnte: Im Wettbewerb um die besten Standortfaktoren für die Unternehmsansiedelung haben sich die US-Staaten (die weitgehend für den Umweltschutz zuständig sind) ein Wettrennen um die niedrigsten Umweltstandarts und -vorschriften geliefert bis die (fast) bei null angekommen waren: "race to the bottom". Warum also noch eine Institutionenreform? Braucht Deutschland noch eine Institutionenreform?

Das empirische Puzzle

Föderalismusreform durch, Problem gelöst? Jetzt sollen nur noch 40% statt wie vorher 60% aller Gesetze im Bundesrat zustimmungspflichtig sein. Weniger Blockaden also, weniger "Veto-Player", die Chance jetzt mal so richtig "durchzuregieren", doch... nichts bewegt sich. Die Große Koalition, durch die Bundestagswahlen 2005 überragend legitimiert, mit einer komfortablen Mehrheit im Bundestag ausgestattet, erweist sich als Rohrkrepierer. Stichwort Gesundheitsreform, Stichwort Unternehmenssteuerreform. Wie schon 1966 scheint sich zu bewahrheiten, dass eine Große Koalition Stillstand bedeutet. Die verabschiedete Gesundheitsreform war zum Schluss so verbaselt, dass die Lobbygruppen zum Schluss lagerübergreifend lieber den Status Quo behalten wollten als den Gesetzesvorschlag verabschiedet zu sehen.

Wie mächtig sind noch die Volksparteien? In den Parteivorständen von CDU und SPD scheint man sich langsam mit dem Gedanken zu arrangieren, dass es in Zukunft wohl keine der beiden Parteien mehr schaffen wird mehr als 40% der Wählerstimmen auf sich zu vereinen. Götterdämmerung der Volksparteien? Da macht man sich schon jetzt mal Gedanken um neue Koalitionen. Die SPD bereitet sich unter Kurt Beck auf eine Zukunft mit der FDP vor, die CDU will sich den Grünen annähern, die Grünen der FDP und umgekehrt. Sind Dreier-Koalitionen zukünftig die Regel? Oder wird die Große Koalition die Regel? Es stellt sich die Frage, was wohl das schlimmere Übel wäre: eine Dreier-Koalition aus zwei kleinen und einer mittelgroßen Fraktion oder eine Große Koalition.

Mögliche Optionen?

Unter der Voraussetzung, dass die Volksparteien an Macht verlieren und unter der Voraussetzung, dass dies "schlecht" für die Politik outputs (im Sinne, dass Strukturreformen so erschwert werden, dass der Status Quo sich verfestigt) des politischen Systems ist, brauchen wir dann nicht eine Wahlsystemreform? Ist es nicht geboten unter diesem Bedingungen die Volksparteien durch ein neues Wahlsystem zu stärken und damit die Republik veränderbarer zu machen? Konkret hieße dies eine Abkehr vom Prinzip der Proportionalität. Es hieße eine Hinwendung zum englischen Modell oder auch zum französischen.

Welche Funkionen soll normativ ein Wahlsystem überhaupt erfüllen? Der Politikwissenschaftler Dieter Nohlen hat für Zielfunktionen ausgemacht: Repäsentation, Konzentration, Partizipation, Einfachheit und Legitimität.
  • Repräsentation: Alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen sollen in den gewählten Organen vertreten sein. Die abgegebenen Wählerstimmen sollen sich proportional in Abgeordnetenmandaten niederschlagen.
  • Konzentration: Die Zahl der Parlamentsparteien soll reduziert und die Bildung stabiler parlamentarischer Mehrheiten gefördert werden.
  • Partizipation: Die Wähler sollen große Beteiligungschancen haben, insbesondere neben der Parteienwahl auch eine personelle Wahl treffen können.
  • Einfachheit: Die Wähler sollen die Funktionsweise des Wahlsystems verstehen.
  • Legitimität: Das Wahlsystem und seine Ergebnisse sollen allgemein akzeptiert sein.
Ein perfektes Wahlsystem gibt es nicht. Zwischen den verschiedenen Funktionen gibt es ein Spannungsverhältnis, z.B. zwischen Repräsentation und Konzentration. Sollte das deutsche Wahlsytem in Zukunft ein größeres Gewicht auf eine Konzentration legen? Ich tendiere in der letzten Zeit zu dieser Option. Eine Möglichkeit wäre also eine relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen (wie in England) oder eine absolute Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen (wie in Frankreich mit zwei Wahlgängen).

Independentfrontpage10-05-05Auf der anderen Seite wir im Ausland das deutsche Wahlsystem immer für seinen ausgewogenen Kompromiss zwischen Majorz und Proporz als Vorbild genannt. Gerade in Großbritannien gibt es doch bei jeder Wahl die Forderungen nach einem "demokratischeren" Wahlsystem, das ohne größere Verzerrungen die abgegebenen Stimmen in Mandate umrechnet. Der Titel des Independent nach der letzten Abgeordnetenhauswahl bringt das englische Dilemma auf den Punkt: What we voted for ...and what we got! Allerdings muss man auch zugeben, dass die englische Wahlsystem-Philosophie "Die Partei, die bei der Wahl die meisten Stimmen bekommt, soll auch alleine in der Lage sein eine Regierung bilden zu können, selbst wenn sie nicht über 50% er Stimmen bekommen hat" auch effektive policy outputs befördert.

Denkbar wäre in Deutschland auch eine Anhebung der Sperrklausel (die berühmte 5%-Hürde plus der 3-Direktwahlkreise-Regelung) bei einer Beibehaltung des bisherigen deutschen Wahlsystems - wohl die einfachste und effektivste Lösung des oben beschriebenen Problems. Dies würde vor allem der Anforderung von Einfachheit gerecht werden, denn ein radikaler Wahlsystemwechsel erfordert auch ein "Umlernen" der Bürger.

Die Gelegenheit für eine Wahlsystemreform ist jedenfalls einmalig, denn eigentlich kann eine solche Reform, die die größeren Parteien zu ungunsten der kleineren begünstigt nur in einer Großen Koaltion beschlossen werden. Bereits unter der ersten Großen Koalition gab es Diskussionen über einen Wechsel vom Proporz- und Majorz-Prinzip, der allerdings mit der SPD damals nicht zu machen war (man steuerte ja bereits auf die sozial-liberale Ära mit der FDP zu). Wenn, dann ist eine solche Reform also nur jetzt zu machen. Es sieht allerdings nicht danach aus.

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